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X-chromosomale Agammaglobulinämie (XLA)

Die X-chromosomale Agammaglobulinämie (XLA) ist eine seltene angeborene Erkrankung des Immunsystems, die erstmals 1952 von dem Arzt Dr. O. Bruton beschrieben wurde und daher auch unter dem Namen „Bruton’sche Agammaglobulinämie“ oder „Angeborene Agammaglobulinämie“  bekannt ist. Die Abkürzung XLA lässt sich von ihrem Vererbungsweg ableiten. X-Linked bedeutet X-chromosomal gebunden und bezieht sich auf den Vererbungsweg. Der genetische Defekt liegt auf dem X-Chromosom, wodurch nur Jungen betroffen sind (siehe unten). Die XLA war der erste in der Literatur beschriebene Immundefekt.

Patienten mit XLA können aufgrund einer frühen Störung in der Entwicklung der B-Lymphozyten Antikörper (Immunglobuline) nicht in ausreichender Menge und Funktion bilden. Das bedeutet aber nicht, dass der Körper Infektionserregern grundsätzlich hilflos ausgeliefert wäre. Weite Teile der Immunabwehr sind völlig intakt.

B-Lymphozyten gehören zu den Zellen des Abwehrsystems, den weißen Blutzellen. Sie werden im Knochenmark gebildet und entwickeln sich dann über verschiedene Reifungsschritte in den Organen wie z.B. der Milz und den Lymphknoten von Vorläuferzellen zu reifen B-Zellen und Plasmazellen, die dann in der Lage hochaktive Antikörper gegen Infektionserreger zu bilden. Der Entwicklungsprozess der B-Zellen hängt u.a. von einem Enzym ab, das Bruton’s Tyrosinkinase (Btk) genannt wird. Fehlt dieses Enzym, können die B-Zellen bereits im Knochenmark den normalen Entwicklungsprozess nicht durchlaufen, im Blut sind dann in der Regel gar keine B-Zellen messbar. B-Zellen und Plasmazellen sind aber die einzigen Zellen im Körper, die in der Lage sind Antikörper zu bilden, wodurch es bei betroffenen Patienten zum Fehlen Antikörper kommt. Bei „A“gammaglobulinämie sind im Gegensatz zu häufigeren „Hypo“gammaglobulinformen alle Klassen von Antikörpern vermindert und meist vollständig abwesend. 

Antikörper (Immunglobuline) sind ein wichtiger Teil des Abwehrsystems. Jeden Tag kommt der Mensch über die Nahrung, die Atemwege und die Haut mit einer Vielzahl von möglichen Krankheitserregern wie Bakterien, Viren und Pilzen in Kontakt. Damit diese Erreger keinen Schaden anrichten können, stehen dem Körper verschiedene Schutzmechanismen zur Verfügung. Einer dieser Schutzmechanismen sind die Antikörper.

Hat ein Krankheitserreger die natürlichen Schutzbarrieren der Haut oder Schleimhaut überwunden, wird eine Immunantwort ausgelöst. Diese Antwort des Abwehrsystems soll eine Vermehrung des Krankheitserregers im Körper und eine darauf folgende Erkrankung verhindern. Jeder eindringende Erreger wird von weißen Blutkörperchen, den Trägern des Abwehrsystems, zunächst genau „betrachtet“. Wird er anhand seiner Oberflächenmerkmale als gefährlich erkannt, beginnen die Abwehrzellen, die Eindringlinge anzugreifen.

Antikörper sind eines der Erkennungswerkzeuge des Immunsystems. Es sind Y-förmige Eiweißkörper, die als Fühlarme auf der Oberfläche von bestimmten weißen Blutkörperchen (den sogenannten B-Zellen) sitzen. Wenn diese Fühlarme einen Erreger erkennen, werden die B-Zellen aktiviert und können ihre speziell auf den Erreger passenden Antikörper in großer Zahl ins Blut ausschütten. Diese freien Antikörper können an Erreger binden und sie damit „markieren“. Die Markierung macht die Erreger empfänglich für Erreger-zerstörende Proteine (Complement) und erkennbar für Fresszellen (Makrophagen und Granulozyten) und diese können dann die Erreger aufnehmen und zerstören. Wenn im Rahmen einer Infektion einmal Erreger-spezifische Antikörper gebildet worden sind, bleiben diese im Blut sehr lange (oft lebenslang) erhöht. Sie sind wesentliche Träger des immunologischen Gedächtnisses. Dies macht man sich z.B. bei Impfungen zunutze, bei denen eine Antikörperantwort durch unschädliche Erregerbestandteile ausgelöst wird.

Auch wenn der Körper noch über viele andere Abwehrmechanismen verfügt, sind Antikörper ein unverzichtbarer Teil des Abwehrsystems. Wenn die Bildung oder die Funktion von Antikörpern aufgrund einer angeborenen oder erworbenen Erkrankung gestört ist, entsteht eine Infektanfälligkeit, die in schweren Fällen lebensbedrohlich sein kann.

Der Krankheitsbeginn ist im ersten Lebensjahr, typischerweise zwischen dem 6.-9. Lebensmonat, wenn die jungen Patienten mit immer wiederkehrenden Infektionen der Atemwege auffallen. Grund für die Symptomfreiheit in den ersten Monaten ist der zunächst noch bestehende Schutz durch über die Nabelschnur übertragene mütterliche Antikörper, welche nach der Geburt aber langsam abgebaut werden. Danach wird der Schutz beim gesunden Kind dann durch die eigene Antikörperproduktion übernommen. Kinder mit XLA können nach Abbau der mütterlichen Antikörper diese Antikörper nicht selber herstellen und werden empfänglich für ausgeprägte Infekte. Häufig sind das bakterielle Infektionen der Atemwege, wie Entzündungen der Ohren (Otitiden), der Bronchien und auch der Lunge (Pneumonien), aber auch Entzündungen der Haut (flächige Infektionen oder Abszesse) oder der Augen (Konjunktivitiden) können immer wieder auftreten. Bei älteren Kindern und Erwachsenen kommen sehr häufig Infektionen der Nasennebenhöhlen (Sinusitiden) dazu. Auch Hirnhautentzündungen (Meningitis) treten insgesamt zwar selten auf, sind aber häufiger als bei Gesunden. Einer der Gründe dafür ist, dass Impfungen, die gesunde Kinder vor solchen ernsteren Infektionen schützen, bei XLA-Patienten nichts nützen, da sie keine Antikörperantwort hervorrufen können. Die Infektionen verlaufen oft schwerwiegender als beim immungesunden Menschen und können zur Schädigung an den betroffenen Organen führen, wie z.B. zu einer Hörminderung bei wiederholten Mittelohrentzündungen durch Vernarbungen des Trommelfells als Folge der wiederkehrenden Entzündungen oder zu Bronchiektasen (Aussackungen der Bronchien in welchen sich dauerhaft Keime ansiedeln können). Manche Patienten klagen über Beschwerden des Magen-Darm Traktes mit wiederkehrenden Durchfällen, wo häufig Infektionen mit Giardien (Parasiten) die Verursacher sein können. Auch kann es bei unbehandelten Kindern mit XLA zu einer Störung der körperlichen Entwicklung (Wachstum und Gewicht) kommen. Mandeln und Lymphknoten sind bei betroffenen Kindern deutlich kleiner.

Infektionen mit Viren sind seltener, können aber auch immer wieder zu Infektionen der Atemwege und des Magen-Darm-Traktes führen. Diese Infektionen können auch ohne Antikörper kontrolliert werden, sind aber oft Wegbereiter für unmittelbar nachfolgende Infektionen mit Bakterien, die dann Probleme bereiten. Eine Virusinfektion, die bei XLA-Patienten etwas häufiger ist, ist die Virus-vermittelte Hirnhautentzündung (Meningitis). Manche Patienten mit XLA entwickeln auch Gelenkentzündungen (Arthritis), die aber in der Regel gut zu behandeln sind.

Jeder Mensch besitzt von jedem Gen zwei Stück, eines vom Vater und eines von der Mutter. Ausnahme ist das X-Chromosom, von dem Frauen zwei besitzen und Männer nur eines – sie haben dafür ein Y-Chromosom. Für die meisten Erbkrankheiten ist es für den Ausbruch der Erkrankung nötig, dass beide Gene fehlerhaft sind, da ein gesundes Gen in der Regel ausreicht, genügend gesunde Proteine herstellen zu können.

Die X-chromosomale Agammaglobulinämie wird, wie der Name schon verrät X-chromosomal, d.h. geschlechtsgebunden vererbt. Das bedeutet, dass das betroffene Gen auf dem geschlechtsbestimmenden X-Chromosom liegt. Die Krankheit wird bei diesem Erbgang in der Regel durch die Mütter übertragen. Sie sind jedoch klinisch gesund, da sie das kranke X-Chromosom durch ihr zweites, gesundes X-Chromosom ausgleichen können. Söhne betroffener Mütter können nun entweder das kranke oder das gesunde X-Chromosom erben. Männer besitzen nur ein X-Chromosom, so dass ein Sohn, der das kranke X-Chromosom erbt, nicht in der Lage ist, den Fehler auszugleichen. Dies bedeutet, dass von einer Mutter mit einem fehlerhaften Gen die Hälfte aller Söhne an XLA erkrankt, die andere Hälfte aber gesund ist. Alle Töchter sind gesund, aber die Hälfte aller Töchter erbt ein krankes Gen und kann daher wiederum die Erkrankung an die Hälfte ihrer Söhne weitergeben. In manchen Fällen hat die Mutter eines betroffenen Sohnes auch zwei gesunde Gene; dann hat sich der genetische Fehler bei der Entwicklung des Kindes ergeben und weitere Kinder dieser Mutter sind nicht betroffen.

In jedem Fall sollte bei Diagnose einer XLA eine genetische Untersuchung und Beratung der erweiterten Familie erfolgen, um das Risiko eines erneuten Erkrankungsfalls einschätzen und entsprechend beraten zu können.

Ja. Ist der genetische Defekt identifiziert und damit die Diagnose der XLA gesichert, kann untersucht werden, ob die Eltern Träger der gleichen Mutation sind und ob die Gefahr besteht, die Krankheit auf weitere Kinder zu übertragen. Allen Familien sollte eine solche Analyse und genetische Beratung angeboten werden. Bei weiteren Schwangerschaften ist grundsätzlich eine pränatale Diagnostik möglich, um zu sehen, ob der Fötus von dem in dieser Familie identifizierten Gen-Defekt betroffen ist oder nicht. Auf jeden Fall aber sollte jeder weitere neugeborene Junge unmittelbar nach Geburt auf das Vorliegen der Erkrankung untersucht werden.

An eine XLA sollte immer gedacht werden, wenn der Patient ein Junge ist und früh an wiederkehrenden bakteriellen Infektionen der Atemwege leidet. Um die XLA festzustellen, sind eine sorgfältige körperliche Untersuchung des Patienten, sowie eine genaue Erhebung der Anamnese (Krankheitsgeschichte) erforderlich. Bei der körperlichen Untersuchung ist auch die Beurteilung der Mandeln und Lymphknoten von Bedeutung, die bei betroffenen Patienten oft verkleinert sind. Die körperliche Untersuchung und die Krankengeschichte, sowie das sich darstellende Krankheitsbild führen zunächst zu der Verdachtsdiagnose der Erkrankung.

Im Anschluss sind dann mehrere Blutuntersuchungen notwendig, die Auskunft über die Funktion des Abwehrsystems geben. Hierzu gehört zum einen die Beurteilung der gemessenen Immunglobulinwerte, welche immer unter Berücksichtigung der altersentsprechenden Normwerte beurteilt werden müssen und unter dem Wissen, dass auch bei gesunden Babys die Immunglobulinproduktion manchmal zunächst etwas verzögert sein kann. Eine weitere wichtige Untersuchung ist die genaue Betrachtung der B- Lymphozyten im Blut. Fehlen nicht nur die Immunglobuline, sondern auch die B-Zellen im Blut, erhärtet sich der Verdacht auf eine XLA.

Beweisend ist eine molekulargenetische Untersuchung, das bedeutet dass ein genetischer Test durchgeführt wird, bei dem DNA (aus einer Blutprobe) auf den Defekt in der Erbinformation untersucht wird. Ähnliche Methoden können für die pränatale Diagnostik verwendet werden.

Der wichtigste Baustein der Behandlung ist der Ersatz der fehlenden Antikörper durch Infusionen, welche subkutan (unter die Haut gespritzt) als Heimtherapie oder intravenös (über die Vene verabreicht) in der Klinik möglich ist. Die Antikörperpräparationen stammen von Blutspenden gesunder Personen und enthalten schützende Antikörper gegen eine Vielzahl von Infektionen. Mit dieser Behandlung kann die Infektionsneigung der XLA-Patienten deutlich gesenkt werden. Da die Antikörper nach einer gewissen Zeit im Körper abgebaut werden, müssen die Infusionen regelmäßig wiederholt werden. Mehr Informationen zur Antikörperersatztherapie gibt es in einem separaten Merkblatt. Kommt es auch unter Antikörperersatztherapie zu einer Infektion, ist eine schnelle und möglichst Erreger gerichtete und ausreichend lange antibiotische Behandlung notwendig. Manchmal ist jedoch auch eine prophylaktische (vorbeugende) Dauerbehandlung mit Antibiotika notwendig, um den Patienten so gut wie möglich vor Infektionen zu schützen. Regelmäßige Untersuchungen der Lunge mit Hilfe einer Lungenfunktionsprüfung und bei Bedarf eine bildgebende Diagnostik wie Röntgen oder CT helfen dabei, den Patienten gut zu überwachen und mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen.

Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung sollten Patienten mit XLA in einem mit dieser Erkrankung vertrauten Zentrum behandelt werden.

Patienten mit XLA, die regelmäßig eine Antikörperersatztherapie durchführen, können ein normales Leben führen. Besondere Vorsichtsmaßnahmen im Umgang mit anderen Menschen oder Tieren sind nicht notwendig. Die körperliche Belastbarkeit ist in der Regel nicht eingeschränkt. Vielmehr sollte sie zur aktiven Teilnahme an Sport ermutigt werden. Treten Infektionen auf, benötigen die Patienten besondere Aufmerksamkeit, im Allgemeinen jedoch können XLA-Patienten im Kindesalter an allen Schul- und Freizeitaktivitäten teilnehmen und sich im Erwachsenenalter beruflich entfalten und eine Familie gründen. Ein aktiver Lebenswandel sollte gefördert und als selbstverständlich betrachtet werden!

Die Wirkung von Impfungen besteht in erster Linie darin, die Bildung von Antikörpern anzuregen, nur bei bestimmten Impfstoffen tragen auch andere Elemente des Immunsystems bei. Bei Patienten mit XLA ist die Antikörperbildung gestört und eine Reihe von Impfungen bringt daher keinen Nutzen. Andererseits ist die Impfung von Patienten mit dem XLA mit den nach STIKO (Ständige Impfkommission) empfohlenen Impfungen nicht gefährlich, wenn also vor der Diagnose Impfstoffe verabreicht wurden, hat dies keine gesundheitlichen Folgen. Die Impfstoffe gegen Grippe und gegen Hepatitis B sind wahrscheinlich in der Lage, auch auf anderen Wegen als über Antikörper einen gewissen Schutz vor der Erkrankung zu vermitteln. Diese beiden Impfungen werden daher auch bei Patienten empfohlen, die keine Antikörper bilden können. Darüber hinaus ist eine jährliche Impfung der engen Kontaktpersonen mit dem Influenza-Impfstoff zum Schutz des Patienten sinnvoll.

Kinder mit einer XLA, die mit Antikörpern behandelt sind, können in der Regel den Kindergarten und die Schule besuchen. Spezielle Isolations- oder Hygienemaßnahmen bringen keinen Vorteil. Bei Überlegungen zur Berufswahl ist eine Beratung sinnvoll.

Ursächlich kann die XLA bis heute nicht geheilt werden. Es gibt bis heute keine Möglichkeit das defekte Gen zu reparieren oder die Reifung der B-Zellen durch z.B. eine medikamentöse Therapie zu beeinflussen. Betroffene Patienten können aber mit Hilfe einer regelmäßig durchgeführten Antikörperersatztherapie und wenn erforderlich zusätzlicher Antibiotika-Prophylaxe ein durchaus normales Leben führen.

Stand
Januar 2018

Hinweis
Wir möchten mit unseren Patientenbroschüren gerne dazu beitragen, dass betroffene Patienten, Eltern und ihr Umfeld die Erkrankung und ihre Behandlung besser verstehen. Die Broschüren sind sorgfältig erstellt und beschreiben die Erkrankung und deren Behandlung. Auch wenn Sie viele Informationen in den Broschüren finden, können diese vorliegenden Informationen keinen Arztbesuch ersetzen.

Autor
Henrike Ritterbusch
+49 (0)761 270-45240
henrike.ritterbusch@uniklinik-freiburg.de

Wissenschaftliche Begleitung
Prof. Dr. Stephan Ehl
+49 (0)761 270-77300
stephan.ehl@uniklinik-freiburg.de

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