Zusammenfassung
Kurzsichtigkeit, auch Myopie genannt, ist Folge eines übermäßigen Wachstums des Auges im Kindes- und Jugendalter. Sie ist ein Hauptrisikofaktor für gravierende degenerative Augenerkrankungen im späteren Leben (grüner Star, grauer Star, Makulaerkrankungen, Netzhautablösung) und wurde daher von der globalen WHO-Initiative als eine der fünf Augenkrankheiten zur Beseitigung vermeidbarer Blindheit identifiziert. In Europa wird aktuell knapp die Hälfte der Bevölkerung bis zum jungen Erwachsenenalter kurzsichtig, in den hochentwickelten Regionen Asiens beträgt die Rate ca. 80%.
Die gewöhnliche Kurzsichtigkeit beginnt meist im Grundschulalter und schreitet in den darauf folgenden Jahren fort, selten bis über das 20. Lebensjahr hinaus. Die Progression beträgt dabei bis zu einer Dioptrie pro Jahr, selten mehr. Je früher die Kurzsichtigkeit beginnt, desto höher wird ihr Ausmaß im Erwachsenenalter sein.
Um das Tragen starker Brillengläser zu vermeiden und die Risiken der genannten Augenerkrankungen zu mindern, ist es wünschenswert, das Voranschreiten der Kurzsichtigkeit in der Phase ihres Entstehens zu verlangsamen. In den letzten Jahren wurden viele Ansätze, die teilweise schon länger bekannt sind, im Rahmen klinischer Studien neu evaluiert und bewertet. Neben dem günstigen Einfluss von Tageslicht sowie Vermeidung eines zu geringen Lese- und Nahsichtabstandes wurden progressionsmindernde Effekte für spezielle Brillen- und Kontaktlinsenoptiken gezeigt, am wirksamsten jedoch erwies sich die Therapie mit Atropin-Augentropfen.
Atropin-Augentropfen werden in der Augenheilkunde üblicherweise in einer Konzentration von 0,5% oder 1,0% verabreicht, meist nach Operationen oder als Teil der Behandlung von Entzündungen im Augeninneren. Dass Atropin auch die Myopieprogression mindert, ist seit über 100 Jahren bekannt. Wegen ihrer Nebenwirkungen wurden die Tropfen für diesen Zweck aber kaum verordnet. Diese sind Blendung durch Pupillenerweiterung und Nahsichtprobleme durch Störung der Akkomodation. In der gängigen therapeutischen Dosierung halten diese Nebenwirkungen nach einer einzigen Gabe ca. eine Woche an.
Die sogenannte ATOM-Studie (Atropine in the treatment of myopia) aus Singapur hat gezeigt, dass man die Konzentration von Atropin soweit mindern kann, dass die genannten Nebenwirkungen ausbleiben, die Wirksamkeit des Atropins zur Myopieprogression allerdings zumindest erhalten bleibt, wenn nicht sogar gesteigert wird. Es wurden drei verschiedene Konzentrationen (0,01%, 0,1%, 0,5%) gegen Placebo getestet. Nach einer zweijährigen Behandlungsdauer und einer einjährigen Nachbeobachtungszeit schnitten Tropfen mit einer Konzentration von 0,01% am besten ab (Chia et al. Am J Ophthalmol 2014).
Seit der Publikation dieser Daten hat sich die Anwendung niedrig dosierter Atropin-Augentropfen zur Minderung der Myopieprogression weltweit sehr schnell durchgesetzt und wird auch in Deutschland seit wenigen Jahren von vielen Augenärzten in Kliniken und Praxen eingesetzt. Neben der erwähnten ATOM-Studie aus Singapur gibt es inzwischen eine weitere prospektive, kontrollierte Studie aus Hong-Kong, welche den Effekt für niedrig dosierte Atropin-Augentropfen bestätigt und eine Konzentration von 0,05% bei gleichen, insgesamt geringen Nebenwirkungen für wirksamer als 0,01% erachtet (Lam et al. Ophthalmology 2019). Unsere eigenen, unkontrollierten Daten, die von Kindern zwischen 6-17 Jahren erhoben wurden, deuten darauf hin, dass Atropin in einer Konzentration von 0,01% die Progression bei vernachlässigbaren Nebenwirkungen um etwa 50% verzögert, dass aber 0,05% Atropin eine Pupillenerweiterung von > 3 mm induzieren, was als inakzeptabel angesehen wird (Joachimsen L et al., 2019).
Aufgrund der steigenden Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen auch in Europa und der wachsenden Nachfrage von Eltern nach Möglichkeiten zur Verzögerung des Fortschreitens von Myopie, bereiten wir aktuell eine groß angelegte, von der DFG geförderte, randomisierte klinische Studie vor, um die Wirksamkeit und Sicherheit von 0,01% und 0,02% Atropin-Augentropfen im Vergleich zu Placebo-Tropfen in einer nicht-asiatischen Population an Kindern im Alter zwischen 8 und 12 Jahren zu untersuchen. Eine solche Studie ist dringend notwendig, um den Nutzen des zunehmenden Einsatzes von niedrig dosiertem Atropin bei Kindern zu belegen und klinische Richtlinien zu entwickeln.
Summary
Nearsightedness, also called myopia, is a consequence of excessive growth of the eye in childhood and adolescence. It is a major risk factor for serious degenerative eye diseases later in life (glaucoma, cataracts, macular diseases, retinal detachment) and has therefore been identified by the WHO global initiative as one of the five eye diseases to eliminate preventable blindness. In Europe, just under half of the population currently becomes myopic by young adulthood. In the highly developed regions of Asia, the rate is approximately 80%.
Common myopia usually begins in elementary school age and progresses in subsequent years, rarely beyond the age of 20. The progression measures up to one diopter per year, rarely more. The earlier the onset of myopia, the higher its magnitude will be in adulthood.
In order to avoid wearing strong glasses and to reduce the risks of the mentioned eye diseases, it is desirable to slow down the progression of myopia at the stage of its development. In recent years, many approaches, some known for a long time, have been re-evaluated and assessed in clinical studies. Besides the beneficial influence of daylight as well as avoidance of a too near vision distance, progression-reducing effects have been shown for special spectacle and contact lens optics, but most effective proved to be the therapy with atropine eye drops.
Atropine eye drops are commonly administered in ophthalmology at a concentration of 0.5% or 1.0%, usually after surgery or as part of the treatment of ocular inflammation. The theory, that atropine also reduces myopia progression has been postulated over 100 years ago. However, because of their side effects, the drops have rarely been prescribed for this purpose. These are glare due to pupil dilation and near vision problems due to disturbance of accommodation. In the usual therapeutic dosage, these side effects last about a week after a single administration.
The so-called ATOM study (Atropine in the treatment of myopia) from Singapore has shown that it is possible to reduce the concentration of atropine to such an extent that the above-mentioned side effects do not occur, but the effectiveness of atropine for myopia progression is at least maintained, if not even increased. Three different concentrations (0.01%, 0.1%, 0.5%) were tested against placebo. After a two-year treatment period and a one-year follow-up period, drops with a concentration of 0.01% performed best (Chia et al. Am J Ophthalmol 2014).
Since the publication of these data, the use of low-dose atropine eye drops to reduce myopia progression has rapidly gained acceptance worldwide and has also been applied by many ophthalmologists in clinics and practices in Germany for the past few years. In addition to the aforementioned ATOM study from Singapore, there is now another prospective controlled study from Hong-Kong that confirms the effect for low-dose atropine eye drops and finds a concentration of 0.05% to be more effective than 0.01% with the same overall low side effects (Lam et al. Ophthalmology 2019). Our own uncontrolled data collected from children aged 6-17 years suggest that atropine at a concentration of 0.01% delays progression by approximately 50% with negligible side effects, but that 0.05% atropine induces pupillary dilation of >3 mm, which is considered unacceptable (Joachimsen L et al., 2019).
Due to the increasing prevalence in children and adolescents also in Europe and the growing demand from parents for ways to delay the progression of myopia, we are currently preparing a large-scale, DFG-funded, randomized clinical trial to investigate the efficacy and safety of 0.01% and 0.02% atropine eye drops compared to placebo drops in a non-Asian population of children aged 8-12 years. Such a study is urgently needed to demonstrate the benefits of the increasing use of low-dose atropine in children and to develop clinical guidelines.