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Seelische Wogen glätten

Ehrenfried Kluckert

Eine hochaufgeschossene Doppel-Figur wacht über das Treiben in der belebten Eingangshalle des Herzzentrums Bad Krozingen. Die von Karl Manfred Rennertz gestaltete Holzskulptur – es handelt sich um eine bemalte Douglasie und eine feuergeschwärzte Ulme aus dem Jahre 1999 – signalisiert die künstlerischen Ambitionen der Klinik.

Es begann im Jahre 1986: Der „Einzug der Kunst“ wurde mit einer Ausstellung der Zeichnungen von Gunther Vogel gefeiert. Ein Jahr zuvor hatte die Kuratorin Beate Hill-Kalusche zusammen mit dem Verwaltungsdirektor der Klinik und einem Vertreter des Berufsverbandes Bildender Künstler ein Ausstellungskonzept entwickelt. Dabei musste berücksichtigt werden, dass es sich bei einer Klinik um einen ungewöhnlichen Ausstellungsort handelt. Galeriekonzepte der üblichen Art konnten also nicht übertragen werden. Andererseits wollte man auch nicht ein gefälliges „Dekorationssystem mit Kunst“ installieren, sondern anspruchsvolle avantgardistische Kunst präsentieren. Man einigte sich auf ein „griffiges“ Konzept: Es sollten zunächst Künstler und Künstlerinnen aus dem Südwesten Deutschlands ausgestellt werden, deren Arbeiten in der öffentlichen Kunstszene bereits diskutiert wurden. Ferner war ein Akademie-Abschluss oder eine adäquate Ausbildung an einer Kunstschule obligatorisch.

Im Jahre 1998 bot sich die Gelegenheit, das Ausstellungskonzept in Florenz auf einem Internationalen Kongress vorzustellen, den das Gesundheits- und Kultusministerium der Toskana sowie die Fondazione Michelucci in Zusammenarbeit mit der UNESCO ausrichtete. Die Konzeption wurde in ein Richtlinienprogramm für Kunst in Kliniken aufgenommen. Bisher fanden über 60 Ausstellungen statt, unter anderem auch in Kooperation mit Museen der Region.

Karl-Manfred Rennertz, Holzskulptur begrüßt die Eintretenden

Der „Kunst-Raum“ des Herzzentrums teilt sich in drei Bereiche auf: Gemälde, Zeichnungen oder Wand-Objekte werden im Attikageschoss gezeigt. In der lichten Eingangshalle sind insbesondere größere Skulpturen und Gemälden zu sehen. Hier befinden sich auch drei Vitrinen, in denen Kleinskulpturen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Klinikpark bietet Raum für umfassende Skulpturenausstellungen.

Durch regelmäßige Ankäufe ist es der Klinik im Laufe der Jahre gelungen, eine interessante und vielschichtige Sammlung aufzubauen, deren Arbeiten großzügig über die Eingangshalle, den Speisesaal, die Wartebereiche, Flure und Büros verteilt sind.

In den Monaten Mai und Juni des vergangenen Jahres machte eine Ausstellung mit dem Bildhauer Gert Riel von sich reden. Riel, der schon mit zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland vertreten war, stellte seine monumentalen Eisenstelen im Park auf. Im Attikageschoss waren seine Zeichnungen - gewissermaßen die "Modelle" seiner plastischen Arbeiten - zu betrachten. Neben den avantgardistischen Künstlern wählte die Kuratorin für die erste Ausstellung in diesem Jahr den Bildhauer Kurt Lehmann aus, einen Vertreter der Klassischen Moderne. Der 1905 in Koblenz geborene Bildhauer zog im Jahre 1970 ins Markgräflerland nach Staufen, dem Nachbarort von Bad Krozingen. Er starb im Jahre 2000 in Hannover. Der mit vielen bedeutenden Kunstpreisen ausgezeichnete Bildhauer ist mit Kleinplastiken, einer Halbfigur und einer großen Standfigur vertreten. Besonders die  Kleinplastiken veranschaulichen Lehmanns artistisches Vermögen, die menschliche Figur in wechselnden Bewegungsmotiven darzustellen.

Eine Lehmann-Skulptur vor Bildern von Erwin Wortelkamp im Eingangsbereich

Parallel zur Skulpturenausstellung sind im Attika-Geschoss derzeit die Bilder des jungen Künstlers Heinz Thielen zu betrachten. Thielen, Jahrgang 1956, studierte unter anderem bei K.R.H. Sonderburg an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Der Gegensatz monochromer Rechtecke und malerischer Strukturen irritiert das Auge. Das macht den Reiz der Bilder aus. Die Betrachter empfinden sich als Künstler eines selbst inszenierten Seh-Vorgangs. Die Konfrontation des Klassikers mit dem avantgardistischen Künstler sorgt für ein weit gefächertes Spannungsfeld, das die Betrachter zum näheren Hinschauen und zur Auseinandersetzung reizt.

Während die lebhaft bevölkerte Eingangshalle nur wenig Raum für stille Meditationen lässt, bietet beispielsweise der Wartebereich in der Chirurgie Ruhe und Beschaulichkeit für eine ausführliche Bildbetrachtung. Dafür mögen sich die Gemälde von Renata Thong eignen, da ihre figurativen Kompositionen ein breites Assoziationsspektrum bieten. Die changierenden Licht- und Farbverhältnissen suggerieren eine Bilddynamik, die zuweilen abstrakte Formen in gegenständliche Muster umkippen lässt.

Patienten, Ärzte und Pflegepersonal suchen gerne einen besonders reizvollen Ort in diesem Gebäudeteil auf, den Erkerraum im hinteren Bereich der Chirurgie. Er bietet nicht nur einen prachtvollen Blick in den Parkbereich sondern auch auf das Landschaftsgemälde von Jörg Hilfinger, das in dieser „Miniatur-Eremitage“ keinen besseren Platz hätte finden können.

Der geräumige und lichte Speisesaal ist so etwas wie das soziale Zentrum der Klinik. Hier treffen sich die Patienten mit Ihren Angehörigen und Freunden. Die großformatigen Arbeiten von Peter Stobbe dominieren den Raum und haben sicherlich schon häufig zu intensiven Kunstgesprächen herausgefordert. Seine Arbeiten treten häufig in Bild-Kombinationen auf und fordern das Phantasievermögen der Betrachter heraus. Sie fühlen sich aufgefordert, Bezüge zwischen Bildobjekten und Gemälden zu erkennen, um eine "Gesamtkomposition" der getrennten Segmente herzustellen.

Und die Patienten auf ihren Stationen? Auch sie dürfen sich der Kunst erfreuen. Die Kuratorin Hill-Kalusche hat eine beeindruckende Sammlung von über 200 Kunstdrucken aus der Zeit nach 1945 in den Fluren und Aufenthaltsbereichen verteilen lassen.

Ein Gemälde von Erwin Holl im Speisesaal

Heilung und Genesung sind die höchsten Ziele ärztlichen Bemühens. Doch auch das Sterben ist Teil des Klinik-Alltags.

Im Ernstfall bilden beide Klinikrealitäten für alle Beteiligten oft unüberbrückbare Gegensätze. Hieraus ergeben sich schwierige Situationen und Fragen für Ärzte, Pflegende, aber auch für die Angehörigen und für die sterbenden Patienten selber. Deshalb haben sich Pflegende in erfahrungsorientierten Seminaren und ein interdisziplinär besetztes Gremium der Klinik mit Direktion, Vertretern von Ärzten und Pflegepersonal, Psychologie und Klinikseelsorge über mehrere Jahre auf den Weg gemacht, sich diesen Fragen zu stellen und Antworten zu finden. Beraten wurden die Gruppen von Herrn Pulheim, Leiter des Instituts für Klinische Seelsorgeausbildung, Heidelberg.

Diese Gruppen haben versucht, alternative Weisen des Umgangs mit Sterbenden und mit Toten aufzuzeigen und wurden dabei von alter und auch moderner Kunst angeregt.

Schon in den Seminaren sind die Gruppen dabei auf die Kunst und die Bilder des Malers Ben Willikens gestoßen. Er setzt sich in seiner Malerei mit Räumen auseinander. Die Bilder des Malers und seine gemalten Räume erzeugen eine „Metaphysik“ des Raumes, worin und wodurch die Erfahrung, das Erleben und das Aushalten des Todes, der Trauer, des Loslassens und die Übergangsituation der Toten Ausdruck finden, miteinander in Spannung bleiben und nicht gleich Trost, bzw. Vertröstung und fertige Antworten gegeben werden.

Jörg Hilfinger: Körperlandschaft, 1995, im Erkerraum der Chirurgie

Ben Willikens war bereit, die Ergebnisse der hausinternen Prozesse umzusetzen und sie in die künstlerische Gestaltung eines würdigen Totenraumes umzuwandeln. Der Künstler schuf so etwas wie ein Gesamtkunstwerk. Von der suggestiven Lichtmalerei an der Stirnwand bis hin zur Formung des Wasserhahns und der Ablage für Handtücher unterlag alles seiner artistischen Regie. Der von ihm geschaffene Totenraum soll den Angehörigen, den Ärzten und dem Personal in der Klinik helfen, Abschied zu nehmen von toten Patientinnen und Patienten, die sie als Sterbende begleitet haben. Der Totenraum, 1997 eingeweiht, ist öffentlich nicht zugänglich.

Neben Kunstausstellungen finden regelmäßig kulturelle Veranstaltungen statt. Drei bis vier Mal im Jahr lädt das Herzzentrum zu einer Musik-Matinee ein, angeregt und organisiert vom Leitenden Oberarzt Dr. Bestehorn, selbst ein passionierter Musiker. Hin und wieder bietet die Klinik auch Film-Vorstellungen an, wie beispielsweise vor zwei Jahren die „Casa delle Favole“ (Haus der Märchen) von Karl-Heinz Heilig. Der Autor und Filmemacher war selbstverständlich anwesend.

Totenraum
(Foto: Bechtel)

Das Kunstwerk versieht im Klinik-Alltag eine andere Funktion als im Museum oder in der Galerie. Vermutlich kann es als eine Art  Katalysator oder zumindest als aktiver Begleiter im Heilungsprozess angesehen werden. Dafür lassen sich einige Aspekte nennen: Die von Patienten häufig als beängstigend empfundene medizinische Technologie dürfte durch die Präsenz von Kunst abgemildert werden. Mehr noch, die Auseinandersetzung mit dem Kunstobjekt bietet sich als Alternative zum reizarmen Klinikalltag an. Der durch seine Krankheit aus seinem gewohnten Lebensraum herausgerissene Patient leidet auch unter dem Verlust der häuslichen Geborgenheit. Die Begegnung mit Kunst mag dazu beitragen, diesen Entzug zu kompensieren, da die ästhetische Wahrnehmung eine Stabilisierung der seelischen Verfassung ermöglicht. Insgesamt mögen Gespräche über Kunst, Kunstbetrachtungen oder stille Kunstmeditationen zu einer Intensivierung der Akzeptanz des persönlichen Schicksals führen. Die Sensibilisierung der Sinne durch das Ästhetische betrifft  auch die besorgten Angehörigen sowie die Ärzte und das Personal, deren Arbeitsbelastung – besonders in Notfall-Situationen – oftmals extrem hoch ist. Der innere Dialog mit einer Skulptur oder einem Gemälde mag seelische Wogen glätten. Eine weitere Botschaft, auf die die Kuratorin Hill-Kalusche und der Kaufmännische Direktor Bernhard Grotz hinweisen, liegt im Aspekt des Innovativen: Avantgardistische, fortschrittliche Kunst verweist auf die Offenheit des Hauses und durchaus auch auf den Fortschritt im medizinischen Bereich. Alles zusammen genommen ergibt wohl den Sinn und den Aufgabenbereich von „Kunst in der Klinik“.

Totenraum
(Foto: Bechtel)

Der Essay von Dr. Ehrenfried Kluckert erschien in der April-Ausgabe des Regio-Magazins.